Gespräch zu Judentum und Christentum
Dr. Ulrich Oelschläger ist Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN). Seine Funktion ist mit der eines Parlamentspräsidenten vergleichbar. Seine Doktorarbeit schrieb er über das Verhältnis von Judentum und Christentum. Er studierte in Mainz Germanistik, Theologie, Philosophie und Deutsche Volkskunde. Der Wormser unterrichtete zuletzt am Albert-Einstein-Gymnasium in Frankenthal Deutsch, evangelische Religion, Philosophie und Ethik sowie Hebräisch.
Herr Dr. Oelschläger, Sie sind Experte für das jüdisch-christliche Verhältnis. In der Geschichte ging es zwischen den beiden Religionen leider alles andere als tolerant zu. Was waren die Hauptgründe dafür?
Ulrich Oelschläger: Die Gründe dafür reichen weit zurück. Schon im ersten nachchristlichen Jahrhundert kommt es zu einem Entfremdungsprozess zwischen der judenchristlichen Urgemeinde, zu der Zeit eigentlich noch eine jüdische „Sekte“, und den anderen Gruppen des Judentums. Das wurde durch die Passivität der Judenchristen während des römisch-jüdischen Kriegs in den Jahren zwischen 66 bis 73 nach Christus noch verstärkt. Spuren dieses Prozesses finden sich bereits im Neuen Testament, etwa in Lukas 19, 41–48, als Jesus über Jerusalem weint mit den Worten: „Wenn du doch nur erkannt hättest, was dir der Frieden bringt! Aber jetzt bist du mit Blindheit geschlagen. Der Tag wird kommen, an dem deine Feinde einen Wall um deine Mauern aufschütten und dich von allen Seiten belagern. Deine Mauern werden fallen und alle Bewohner getötet werden. Kein Stein wird auf dem anderen bleiben. Warum hast du die Gelegenheit nicht genutzt, die Gott dir geboten hat?“
Was bedeuten diese Worte Jesu genau?
Oelschläger: Unter dem Eindruck der im Jahre 69 unter Vespasian und seinem Feldherrn Titus zerstörten Stadt legt der Evangelist Jesus hier eine Weissagung in den Mund. Sie lässt das Handeln der Römer als Strafgericht über die Juden erscheinen, die nicht dem Beispiel der Judenchristen gefolgt sind und die sich nicht am Krieg beteiligt haben.
Hatte das Folgen?
Oelschläger: Der Bibeltext wird im Mittelalter zur verbindlichen Perikope – also der Predigtgrundlage – für den 10. Sonntag nach Trinitatis, den sogenannten Israelsonntag. Zudem wird an diesem Tag von der Kanzel lange Zeit der Bericht des jüdischen Geschichtsschreibers Josephus über die Zerstörung Jerusalems durch Titus triumphal verlesen. Der gegenseitige Abgrenzungsprozess der christlichen und jüdischen Gemeinden ließe sich noch weiter aus dem Neuen Testament belegen und setzt sich in den ersten drei Jahrhunderten fort.
Und die Juden?
Oelschläger: Auch die Juden entwickeln eine sich gegen das Christentum abgrenzende eigene Tradition in der Mischna und den Midraschim, später im Talmud. Das Christentum öffnet sich durch die Missionsarbeit des Apostels Paulus der Welt der Griechen und Römer. Spätestens im vierten Jahrhundert, als das Christentum Staatsreligion wird, verschlechtert sich das Verhältnis beider Religionen weiter. Das zuvor mehr als das Judentum verfolgte Christentum wird aus seiner Machtposition nun zum Verfolger des Judentums. Die neutestamentlichen Texte aus der Passionsgeschichte werden so interpretiert, als hätten Juden Jesus getötet. Im Sinne der christologischen Reflexionen des ersten Jahrtausends galten sie somit als „Gottesmörder“.
Das zieht sich dann weiter durch die Geschichte …
Oelschläger: Ja, so werden sie auch in der mittelalterlichen Kunst dargestellt, ausgestattet mit der Kleidung des Mittelalters, mithin wird die vermeintlich historische Schuld auf die jüdischen Zeitgenossen des Mittelalters projiziert. Die späten Schriften Luthers gegen die Juden spiegeln das schlechte Verhältnis beider Religionen. Aber auch schon seine frühe als „judenfreundlich“ geltende Schrift von 1523 „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“ war nicht von Toleranz, sondern vom Missionswillen geprägt.
Luther spielt hier alles andere als eine rühmliche Rolle?
Oelschläger: Besonders die späten Schriften Luthers gegen die Juden wurden von der nationalsozialistischen Propaganda gern ausgegraben. Eine wohl insgesamt nachhaltigere Wirkung auf die evangelische Theologie als diese übte jedoch Luthers Gegenüberstellung von Gesetz und Evangelium aus. In seiner Wirkungsgeschichte führt diese zur Abwertung des Alten Testaments. Es degradiert das Judentum als „Gesetzesreligion“ zur Negativfolie, vor der sich das Christentum als Religion der Liebe abhebt. Begleitet wird die negative Entwicklung seit den Kreuzzügen von Pogromen. Dabei darf man im Zuge der Verfolgungen nicht alle Juden umbringen – so die damalige Vorstellung –, damit die Vision des Paulus einer endzeitlichen Vereinigung von Kirche und Israel erfüllbar bleibt. Pogrome hatten dann auch in zunehmendem Maße wirtschaftliche Gründe. Auch der Neidfaktor gegenüber einem Volk, das im Durchschnitt einen höheren Bildungsstandard aufwies, sollte nicht unterschätzt werden. Die Judenfeindschaft mündet später in den Rasseantisemitismus des 19. Jahrhunderts und in die Shoa. Christliche Theologie ist insofern nicht frei von Schuld an dem, was im Nationalsozialismus an Verbrechen an Juden begangen wurde. Sie lieferte manchem auch Argumente für sein Handeln.
Hätte es auch eine „tolerantere“ Lösung für all das geben können?
Oelschläger: Mit solchen Spekulationen tut sich der historisch denkende Mensch naturgemäß schwer. Natürlich wäre eine genaue Auslegung des 11. Kapitels im Römerbrief, mit dem Wort von der bleibenden Erwählung der Juden, hilfreich gewesen. Spätestens nach der Aufklärung hätte ich mir das gewünscht – mithin einen theologischen Erkenntnisprozess, der etwas mehr gegen bestimmte Entwicklungen „immunisiert“ oder eine Einstellung, die den Toleranzbegriff im Sinne Lessings etwa hätte Anwendung finden lassen. Ob das jedoch hätte gelingen können, bezweifle ich angesichts des starken Abgrenzungsbedürfnisses gegen die „Mutterreligion“. Dazu kommen Denkmodelle innerhalb der evangelischen Theologie, die zum Beispiel das moderne zeitgenössische Judentum des 20. Jahrhunderts als „dekadentes Asphaltjudentum“ von dem Judentum des Alten Testaments trennen und damit den modernen Antisemitismus rechtfertigen.
Noch heute gibt es viele christliche Gruppen, die zur Judenmission aufrufen. Wie beurteilen Sie das?
Oelschläger: Angesichts der Konsequenz, die die EKHN aus dem 11. Kapitel des Römerbriefs gezogen hat, in Verbindung mit der Einsicht in die Mitschuld am Schicksal der Juden im 20. Jahrhundert möchte ich betonen: Das Bekenntnis der „bleibenden Erwählung der Juden“ in unserem 1991 geänderten Grundartikel schließt jede Judenmission aus und wir müssen uns auch von jedem Gedanken daran distanzieren.
Was hat die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau dazu bewogen, ihre Beziehung zum Judentum vor gut zwei Jahrzehnten neu zu formulieren?
Oelschläger: Der Grundartikel formuliert das wie gesagt wörtlich so: „Aus Blindheit und Schuld zur Umkehr gerufen bezeugt sie – also die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau – neu die bleibende Erwählung der Juden“. Das heißt: Nicht die Juden sind die Blinden, wie die mittelalterliche Kunst suggeriert, die die Synagoge mit verbundenen Augen darstellt, sondern wir waren es und sind zur Umkehr gerufen. Wichtig ist aber in dem Zusammenhang, dass dies ein Fundament im Römerbrief des Apostels Paulus hat.
Was können wir aus all diesen oft ernüchternden Erfahrungen für den künftigen Umgang mit Toleranz lernen?
Oelschläger: Wichtig scheint mir, dass wir uns in unserem Bemühen um gute Beziehung und um einen lebendigen Dialog auf die gemeinsamen Wurzeln besinnen. Das Judentum ist für uns nicht irgendeine fremde Religion. Wichtig ist aber auch, dass wir es mit unserer Umarmung nicht erdrücken und ebenso sein Anderssein tolerieren. Nur so kann es zu einem Dialog auf Augenhöhe kommen, und der ist es, der echte Toleranz erfordert. Dazu gehört, dass wir gegenüber den Juden endgültig den Verzicht auf jegliche Mission erklären und uns in der gebotenen Form auch von Luthers späten Judenschriften distanzieren. Zur Würdigung der jüdischen Religion gehört aber auch, dass wir bei aller Achtung der Unterschiede sehen, dass Jesus seine Botschaft mit Texten des Teiles der Heiligen Schrift begründet, den wir das Alte Testament nennen. Nur so können wir auch zu einer Würdigung der Unterschiede kommen, die auf jene plakativen Unterscheidungsmuster der Vergangenheit verzichtet.
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