Clajo Herrmann
Babenhäuser Pfarrerkabarett
Ich bin nicht tolerant
Ich stehe vorm Spiegel.Gleichzeitig stehe ich auf der Waage.Während die Waage mich trägt, muss ich das Bild im Spiegel ertragen.Knapp 58 Jahre, 83 kg, weitestgehend ergraut, Brillenträger.Nicht das, was ich mir mit 30 für den doppelt so alten Clajo erwartete.Ich muss hinnehmen, dass meine Erwartung an der Realität zerbrach.Klingt dramatisch, beschreibt aber nur einen Reifeprozess.Dieser soll nicht auf kritikloses Hinnehmen gehen.
Graue Haare, mit einer tonsurähnlichen Rundung an der Stelle,
die ein jüdisches Kappez
oder ein bischöfliches Käppchen (selbes Wort!) verdecken würden.
Will ich gar nicht. Nur der Bart ist ab. Sah nicht mehr gut aus. Finde ich.
Darf ich sagen. Ist mein Gesicht. Ich zeig´s, mit allem, was drin ist.
Tolerant findet sich Herr M., der weghört,
wenn Frau und Kinder des Nachbarn unter Schlägen und Demütigungen schreien.
Solange sie nicht zu lange oder spät abends schreien.
Tolerant findet Herr M., dass er sich nicht über Menschenrechtsverletzungen
in fremden Ländern erregt; sich auch nicht am Unrecht im eigenen Lande erregt,
solange es ihn nicht trifft. Er ist sogar stolz, unpolitisch zu sein.
Toleranz nennt er seine Ahnungslosigkeit in religiösen, kulturellen, ethischen Fragen,
weil er seine Denkfaulheit für Offenheit hält.
Ihm ist alles egal, solange es nicht vor seiner Tür steht.
Die Mülltonenposition ab Leerungstag, die Parklückenexaktheit seiner Nachbarn,
die Besucherfrequenz im Stockwerk über ihm, die Küchengerüche zwei Etagen unter ihm
sind ihm nicht egal. Ebenso nicht die Hautfarbe, Religion, Einkommensgruppe, Kinderzahl.
Ich bin nicht tolerant, mir geht Herr M. auf den Nerv.
Seine Vorliebe, auszufragen und anzuzeigen, weckt Gewaltbereitschaft in mir.
Ich würde ihm zu gerne ein Abo der Zeitschrift PRO ASYL schenken.
Ich würde ihn gerne zwingen ... gut, ich lasse es.
Ich bin jedenfalls nicht tolerant, wenn es bedeutet, alle und alles hinzunehmen.
Hier könnte eine lange Liste von Menschen und ihrem Verhalten stehen,
die belegen würde, wie viele Vorurteile ich habe. Klischees, die sich täglich bestätigen.
Aber eben auch widerlegt werden. Und das Zweite ist das Wichtigere.
Ich möchte zudem keinen Applaus von Herrn M., der in einigen Fällen „Bravo!“ rufen würde.
Ich will nämlich auch nicht viel von meinen Rechten, meinem Platz, meinem Leben abgeben.
Aber ich will weiterhin in einem Land leben, das meine Rechte hochhält; das geht nicht isoliert.
Meine Rechte hängen immer zusammen mit den Rechten der anderen.
Wer heute den Nachbarn holt, holt morgen mich …
Das Land, in dem ich lebe, ist toleranter verfasst als ich.
Solange ich das nicht vergesse, vergesse ich auch meinen Nächsten nicht.
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